
Gletscherabsturz in der Schweiz Aufgestautes Wasser fließt stellenweise ab
Abwarten und hoffen - mehr bleibt den Menschen nach dem Gletscherabbruch in der Schweiz derzeit nicht. Es gibt Anzeichen für eine leichte Entspannung: Aufgestautes Wasser scheint sich seinen Weg durch den Schuttberg zu bahnen.
Im Schweizer Lötschental ist die Lage weiter angespannt, doch es gibt die leichte Hoffnung, dass die befürchtete Flutwelle ausbleiben könnte. Hinter dem gigantischen Schuttkegel, der das Flussbett der Lonza nach dem Gletscherabbruch von Mittwoch blockiert, nimmt die Wassermenge nach Augenschein von Experten ab. "Zum jetzigen Zeitpunkt ist die Lage ruhig", teilte der Krisenstab gegen Mittag mit. Zuvor hatten die Einsatzkräfte das Katastrophengebiet überflogen.

Hoffnung für das Lötschental? Aufgestautes Wasser sucht sich seinen Weg durch die Geröllmassen.
Zugleich sind bereits kleinere Mengen Wasser durch den Schuttberg abgeflossen. "Das Wasser beginnt sich seinen Weg durch die 2,5 Kilometer lange Ablage zu bahnen", sagte der Kantons-Geologe Raphaël Mayoranz dem Schweizer Sender RTS. Der See hinter dem Schuttkegel sei nicht hoch genug, dass er überschwappe. Vielmehr bildeten sich am unteren Ende des Kegels kleine Seen. Je mehre Wasser auf diese Weise abfließen könne, desto geringer sei die Gefahr eines plötzlichen großen Wasseraustritts.
Mit Blick auf den Schuttkegel sagte der Sprecher des Regionalen Führungsstabs im Lötschental, Matthias Ebener, der Nachrichtenagentur dpa: "Zurzeit ist unbekannt, ob das Wasser durchfließt oder aufgesogen wird." Experten vor Ort beobachteten die Lage fortwährend.
Bewohner zur Flucht bereit
In zwei Gemeinden weiter unten im Tal sitzen Bewohner dennoch auf gepackten Koffern. "Wir fordern die Bewohner auf, persönliche Vorbereitungen zu treffen, um innerhalb möglichst kurzer Zeit die Wohnungen verlassen zu können", teilen die Gemeinden Steg-Hohtenn und Gampel-Bratsch mit. Die Menschen würden über eine Notfall-App und Sirenen alarmiert, wenn doch eine Flutwelle oder Gerölllawine komme.
Die Gemeinden Gampel und Steg liegen rund 20 Kilometer unterhalb des verschütteten Dorfes Blatten. Dazwischen liegen ein Staudamm und Auffangbecken. Dort wurde bereits Wasser abgelassen in der Hoffnung, dass das Becken im Falle eines großen Durchbruchs die ganzen Wassermassen auffangen kann.

Eingreifen vorerst unmöglich
Die Menschen in der Region und die Behörden sind zum Abwarten verdammt. Das Gelände ist für Räumungsarbeiten zu instabil. So ist es derzeit nicht möglich, das aufgestaute Wasser etwa durch das Fräsen einer Rinne in den Schuttberg in geordnete Bahnen zu lenken. Menschen und Maschinen könnten einbrechen. "Unternehmen können wir leider wenig, weil die Sicherheitslage vor Ort es nicht zulässt, dass wir mit schweren Maschinen eingreifen können", sagte Christian Studer von der Dienststelle Naturgefahren. Die Armee stehe aber für Räumungsarbeiten bereit, sobald es die Lage zulässt.
Zudem drohen weitere Felsabbrüche. An der ursprünglichen Abbruchstelle können immer noch mehrere Hunderttausend Kubikmeter Gestein abstürzen. Auch die Geröll- und Schuttmassen, die bei dem Abbruch am Mittwoch auf der gegenüberliegenden Hangseite hochgeschoben worden waren, könnten wieder abrutschen.
Blatten ist nahezu vollständig zerstört
Das Katastrophengebiet liegt im oberen Lötschental auf rund 1.500 Metern. Oberhalb des Dorfes, am gut 3.300 Meter hohen Berg Kleines Nesthorn, ist seit Wochen instabiler Fels abgebrochen. Weil immer mehr Felsbrocken und Geröll 500 Meter runter auf den Birschgletscher donnerten, brach dieser am Mittwochnachmittag ab und stürzte samt Geröll und Steinen ins Tal.
Das Dorf Blatten ist fast völlig unter meterhohem Schutt verschwunden. Die meisten der wenigen Häuser, die verschont blieben, sind inzwischen durch das aufgestaute Wasser der Lonza überflutet. Die rund 300 Einwohner waren vergangene Woche in Sicherheit gebracht worden. Ein Einheimischer, der sich am Mittwoch im Katastrophengebiet aufhielt, wird noch vermisst.
Der Schweizerische Versicherungsverband SVV bezifferte den entstandenen Schaden in einer ersten groben Schätzung auf umgerechnet mehrere hundert Millionen Euro. Wie viele Gebäude im Kanton Wallis versichert seien, sei unbekannt, sagte Pressesprecher Thilo Kleine dem Sender RTS. Im Wallis gibt es keine obligatorische Gebäudeversicherung.
Eine Folge des Klimawandels?
Von einer Jahrhundertkatastrophe ist die Rede. Eine Folge der Erderwärmung? Ein einzelnes Ereignis direkt auf den Klimawandel zurückzuführen, ist schwierig, sagte Jan Beutel, Professor der Universität Innsbruck. Er untersucht seit Jahren den Zustand von Felsen und Permafrost sowie Klimaeinflüsse. Dennoch: "Die starken Veränderungen, die wir heute im Hochgebirge erleben, sind zum großen Teil die Folge des Klimawandels der vergangenen Jahrzehnte", sagte er laut Mitteilung der Universität Innsbruck. "Zu einem gewissen Teil ist die Reise für die nächsten Jahre gebucht - eingeheizt ist schon, und das Tauen und Schmelzen wird unweigerlich weitergehen."