
Neue Bundesregierung "Nationale Notlage" für Zurückweisungen?
Am Tag seines Amtsantritts hat Innenminister Dobrindt Zurückweisungen von Asylsuchenden an den innerdeutschen Grenzen angekündigt. Wurde dafür eine "nationale Notlage" erklärt - und was würde das bedeuten?
Die Migrationspolitik war das Hauptthema des Wahlkampfs, die Zurückweisungen von Asylsuchenden an den deutschen Grenzen das große Versprechen von Friedrich Merz und der Union. Folgerichtig hat Alexander Dobrindt am ersten Tag als Innenminister solche Zurückweisungen angekündigt. Stück für Stück werde man diese ausweiten, vulnerable Gruppen wie Familien oder Schwangere aber ausnehmen.
Am Donnerstagabend verbreitete der stellvertretende Chefredakteur der Welt, Robin Alexander, die Meldung, Deutschland habe dafür eine sogenannte nationale Notlage "ausgerufen" und darüber die Botschafter der Nachbarstaaten im Innenministerium unterrichtet. Es dauerte nicht lange, bis ein Regierungssprecher verkündete: "Der Bundeskanzler wird keinen nationalen Notstand ausrufen." Die etwas unterschiedliche Wortwahl zeigt, dass es sich dabei nur scheinbar um ein Dementi handelt.
Ausnahmeregel im Europäischen Recht
Diskutiert wird über eine Ausnahmeregel im Vertrag über die Arbeitsweise der Europäischen Union (AEUV). Der Artikel 72 erlaubt es den Mitgliedsstaaten der EU unter bestimmten, besonderen Voraussetzungen die europäischen Regeln zu Asyl- und Migrationsfragen nicht mehr anzuwenden. Und zwar dann, wenn die "Aufrechterhaltung der öffentlichen Ordnung" und der "Schutz der inneren Sicherheit" in dem Mitgliedsstaat andernfalls in Gefahr wären. Der Begriff "nationale Notlage" taucht in Artikel 72 AEUV gar nicht auf, mit ihm wurde aber in der Vergangenheit umschrieben, was mit dieser Ausnahmesituation gemeint ist.
Einzige mögliche Rechtsgrundlage
Innenminister Dobrindt hat bei seinem Pressestatement bezüglich der Ausweitung der Zurückweisungen und auch in Interviews danach erklärt: Die rechtliche Grundlage für die Zurückweisungen sei das deutsche Asylgesetz "in Verbindung mit Art. 72 AEUV".
Denn auch er weiß: Die deutschen Regeln des Asylgesetzes kommen nur zur Anwendung, wenn man die europäischen Regeln nicht mehr anwendet. Nach denen darf Deutschland nämlich - da sind sich die meisten Rechtsexperten einig - nicht in die Nachbarstaaten zurückweisen.
Notlage muss nicht "ausgerufen" werden
Die "nationale Notlage" nach Art. 72 AEUV muss nicht offiziell "ausgerufen" werden. Es muss also kein Papier unterzeichnet und keine offizielle Erklärung abgegeben werden. Ein formaler Akt ist nicht erforderlich. Deshalb ist es richtig, wenn der Regierungssprecher sagt, Merz habe nichts "ausgerufen".
Doch auch der Bundeskanzler weiß, dass Deutschland sich in einem möglichen Gerichtsverfahren vor dem Europäischen Gerichtshof (EuGH) wohl auf Art 72 AEUV berufen müsste. Nur so hat die Regierung überhaupt eine Chance, dass ihr die Zurückweisungen nicht um die Ohren fliegen.
Im Wahlkampf hatte Merz selbst von der "Notlage" gesprochen. Wenn er jetzt seinen Regierungssprecher berichtigen lässt, der Kanzler habe keinen nationalen Notstand in Kraft gesetzt, will er damit vermutlich vor allem beruhigen. Denn bei "nationalem Notstand" denkt man schnell an Staatskrise und an ein entmachtetes Parlament. Das ist hier natürlich nicht gemeint.
Akzeptieren Gerichte die Argumentation der Notlage?
Entscheidend wird die Argumentation um den Artikel 72 AEUV dann, wenn ein zurückgewiesener Asylbewerber gegen die Abweisung eine Klage einreicht, eventuell mithilfe einer NGO. Dann könnte die Frage, ob diese Zurückweisungen rechtmäßig sind, von einem Verwaltungsgericht an den Europäischen Gerichtshof (EuGH) weitergegeben werden. Dort müsste Deutschland gut begründen, warum die "Notlage" vorliegen soll, warum man also das europäische Migrations- und Asylrecht ausgesetzt hat.
Ob die europäischen Richterinnen und Richter die Ausnahme akzeptieren, bezweifeln viele Rechtsexperten. Zumal die Flüchtlingszahlen zuletzt stark rückläufig waren. Außerdem hat der EuGH bisher allen Staaten, die versucht haben, sich auf Artikel 72 AEUV zu stützen, eine Abfuhr erteilt.
Voraussetzung für das Außerachtlassen des Europarechts dürfte zudem auch sein, dass Deutschland vorher alles versucht hat, um die Probleme anderweitig zu lösen. So gibt es zum Beispiel die Möglichkeit, dass der Europäische Rat Maßnahmen zugunsten von Staaten ergreift, in denen aufgrund eines plötzlichen Zustroms von Flüchtlingen eine Notlage besteht. Auf eine solche Lösung hat Deutschland bisher aber nicht hingewirkt.
Bis zur Gerichtsentscheidung Fakten schaffen
Bis zu einer solchen Gerichtsentscheidung wird auf jeden Fall viel Zeit ins Land gehen. Das dürfte das Kalkül von Friedrich Merz und Alexander Dobrindt sein. Selbst wenn man damit später vor Gericht scheitern sollte: Viele Monate hat man dann Fakten geschaffen und das Signal in die Welt gesendet, dass Asylsuchende an den deutschen Grenzen abgewiesen werden.