Der Aktenordner des Bundestagsabgeordneten de Masi mit Fahndungsfotos des früheren Wirecard-Finanzvorstands Jan Marsalek ist im Sitzungssaal zum Bilanzskandal Wirecard im Paul-Löbe-Haus zu sehen.
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Ex-Wirecard-Vorstand Jan Marsalek, Agent für Russland - und für China?

Stand: 20.05.2025 18:05 Uhr

Ex-Wirecard-Vorstand Marsalek hat womöglich mit weiteren Staaten Geschäfte angebahnt, darauf deutet eine Auswertung von Chats hin. Mit einem Mittelsmann soll er China unter anderem angeboten haben, Uiguren in München auszuspionieren.

Von Manuel Bewarder, WDR/NDR, und Florian Flade, WDR

Für die deutschen Strafverfolger ist der ehemalige Wirecard-Vorstand Jan Marsalek vor allem eines: Ein flüchtiger mutmaßlicher Wirtschaftskrimineller, gesucht mit einem internationalen Haftbefehl wegen Verdachts des Milliardenbetrugs. Am Ende stand der Zusammenbruch eines DAX-Konzerns.

Die Sicherheitsbehörden aber interessieren sich zunehmend für eine weitere Seite des Österreichers: Marsalek soll ein russischer Agent sein, der Mitte 2020 offenbar nach Russland floh, und nun weiter Aufträge für Moskau erledigt. Doch offenbar engagierte sich Marsalek noch zusätzlich für weitere Staaten.

200.000 Chats

Nach Informationen von WDR, NDR und Süddeutscher Zeitung (SZ) soll Marsalek seit seiner Flucht versucht haben, Geschäfte mit Vertretern unterschiedlicher Länder zu ermöglichen, vor allem mit China. Das zeigt eine Auswertung Tausender Chats, die in den vergangenen Monaten in London während eines Prozesses präsentiert wurden. Über manche dieser Chats wurde bereits berichtet. Doch nun deutet sich erstmals das gesamte Ausmaß der mutmaßlichen Aktivitäten an.

Sechs Bulgaren, die für Marsalek in Europa spioniert haben sollen, wurden vor kurzem bei dem Gerichtsverfahren in London zu Haftstrafen von insgesamt mehr als 50 Jahren verurteilt.

Eine wichtige Grundlage für die Ermittlungen waren rund 200.000 Chats, die Marsalek mit dem Bulgaren Orlin Roussev, dem Anführer der Ausspähtruppe, über Telegram ausgetauscht haben soll. Eine Analyse dieser Nachrichten deutet darauf hin, dass Marsalek gegenüber Roussev als eine Art Vermittler für russische Stellen auftrat. Das Ziel: Geschäfte einzufädeln. Mal ging es um den Handel mit Lebensmitteln, dann um Impfstoffe, vor allem aber um Militärgerät.

"Wunschliste" aus China

Der Austausch drehte sich aber vor allem immer wieder um die mögliche Lieferung von militärisch relevantem Material, so Ende Januar 2023, wenige Tage vor der Festnahme der Bulgaren in Großbritannien. Roussev berichtete von einem längeren Austausch mit einem Vertreter der chinesischen Armee: "Die Armee (…) ist sehr daran interessiert, so viel wie möglich von den in der Ukraine erbeuteten Waffen und Ausrüstungsgegenständen der NATO/Amerikaner zu erhalten - funktionstüchtig, kaputt usw." Er werde eine "Wunsch-Liste" aus China erhalten.

Offenbar zeigten Roussevs chinesische Kontakte großes Interesse an militärischem Gerät aus NATO-Staaten, das in der Ukraine eingesetzt wird: Ein anderes Mal berichtete Roussev von einem Chat mit "unseren chinesischen Freunden": "Sie fragen, ob wir ihnen einige erbeutete ukrainisch-amerikanische Switchblade-Drohnen verkaufen können."

Gemeint sind damit jene sogenannten Kamikaze-Drohnen, die erfolgreich gegen russische Panzer eingesetzt worden sein sollen. Roussev erklärte, die Anfrage käme von der chinesischen Marine. Kurz darauf bestätigte Marsalek offenbar, dass am nächsten Tag die Bestellung von sechs Drohnen genehmigt werde. Ob ein solches Geschäft tatsächlich zustande kam, ergab sich nicht aus den Chats.

Einmal ging es im Chat auch konkret um mögliche chinesisch-russische Kooperationsmöglichkeiten. Im April 2022 schrieb Marsalek offenbar: "Lass uns gemeinsam mit Deinen chinesischen Spionen eine Strategie für die Zusammenarbeit mit Russland bei einigen strategischen Themen erarbeiten." Zum Beispiel brauche man "etwas wie Starlink. Derzeit ist der Mangel an Kommunikation das größte Problem der russischen Armee." Der Angriffskrieg gegen die Ukraine lief zu dem Zeitpunkt alles andere als geplant für Russland - Kiew wehrte sich immer wieder erfolgreich.

Im Chat zwischen den beiden Geschäftspartnern ging es bezüglich China auch um ganz spezielle Dienstleistungen. Im Mai 2022 hatte Marsalek offenbar mitbekommen, dass München als Zentrum der uigurischen Diaspora in Europa gilt - jener muslimischen Bevölkerungsgruppe, die in China vom Regime unterdrückt wird. Marsalek schrieb an Roussev: "Wären unsere chinesischen Freunde daran interessiert, dass wir diesen Ort mit deutschen Staatsangehörigen infiltrieren?" 

Der Bulgare antwortete: "Ich habe gerade eine Nachricht an das Büro in Peking geschickt." Sie würden wohl an einem der kommenden Tage antworten. Marsalek hakte wohl nochmal nach: "Unsere Freunde in China haben nie Interesse an unserem Vorschlag bekundet, die Münchner Zelle der Uiguren zu infiltrieren, oder?" Wie es weiterging, ob es zu Ausspähungen kam, und was genau mit dem "Büro in Peking" gemeint war, das geht aus den Chats nicht mehr hervor.

Spekulationen über Taiwan

Wie ernst dieser Austausch zwischen Marsalek und seinem Kontaktmann in Großbritannien von den dortigen Sicherheitsbehörden aber genommen wird, hat der Prozess in London gezeigt: Die Verhandlung belegte, dass die verurteilten Bulgaren mit nachrichtendienstähnlichen Methoden etwa russlandkritische Journalisten quer durch Europa ausspähten. Marsalek und Roussev sollen in dem Zuge mehrmals auch Entführungs- oder gar Tötungspläne diskutiert haben.

Der Austausch zu einer möglichen Überwachung von Uiguren in München scheint aber eher ein Einzelfall zu sein. Wenn es in den Chats um China ging, dann drehte es sich oft um anderes. Manches davon ist sehr spekulativ: So berichtete Marsalek von einer allgemein-politischen Diskussion mit "Freunden in den Spezialkräften", womit er vermutlich auf russische Geheimdienstler oder Militärs anspielt. Demnach würden diese annehmen, dass ein möglicher Angriff Chinas auf Taiwan wohl mit einer Pandemie in Taiwan starten würde. China könnte dies als Anlass nehmen, um aus "Gesundheitsgründen" eine Blockade der Insel zu starten.

Umtriebig in viele Richtungen

Auch wenn die angeblichen Beziehungen zu China herausstechen, tatsächlich weisen die Chats darauf hin, dass Marsalek in vielerlei Hinsicht umtriebig war. Die Nachrichten erwecken stellenweise fast den Eindruck, als langweile sich der vormalig hochrangige Geschäftsmann und als suche er nach Möglichkeiten, um Geld zu machen.

Als es um eine angebliche Anfrage aus Kamerun an Roussev ging, bei der Weizenlieferungen im Mittelpunkt stehen sollten, antwortete Marsalek: "Waffen und Sputnik-Impfstoff = kein Problem. Weizen, ich werde fragen."

An mehreren Stellen ging es auch um Marsaleks und Wirecards angebliche Verbindungen zum Bundesnachrichtendienst (BND). Klar ist, dass zumindest geringe Zahlungen des BND über den Zahlungsdienstleister Wirecard geleistet wurden. Doch Marsalek deutete mehr an: "Die Wahrheit werde sowieso nicht herauskommen", soll Marsalek geschrieben haben. "Jeder wird nur verneinen." Seine Sorge sei lediglich, dass einer seiner ehemaligen Vorstandskollegen bei Befragungen von Ermittlern oder vor Gericht etwas zugeben könnte.

Andere Chats, die von Roussevs Anwalt vor Gericht präsentiert wurden, könnten darauf hindeuten, dass der Bulgare und Marsalek zumindest Interesse daran gezeigt haben, über eine Kooperation mit einer Söldnerfirma 2021 sogar bei der Evakuierung von US-Personal aus Kabul mitzuwirken.

Aufschneiderei?

Viele Chats lesen sich sehr selbstbewusst: Einmal soll Marsalek geschrieben haben: "Wir können so ziemlich alles organisieren, was sie brauchen, außer Atomwaffen ... sogar Atomwaffen, wenn sie zahlen."

Wie viele dieser Aussagen bloße Aufschneiderei sind und wie viele einen wahren Kern besitzen, das ist nur schwer nachzuvollziehen. So bleibt unklar, ob Marsalek oder sein bulgarischer Agent tatsächlich Kontakte zum chinesischen Militär oder Geheimdienste hatten, oder ob sie vielleicht eher mit Kriminellen und Mittelsmännern zu tun hatten. Der Londoner Prozess jedenfalls konzentrierte sich lediglich auf einen Bruchteil der vorliegenden Chats.

Zweifel bei Marsalek

Auch wenn sich Marsalek und Roussev in den Nachrichten bisweilen als Freunde bezeichneten und ihre Wertschätzung für einander bekundeten - Zweifel am Bulgaren Roussev, der in Chats auch immer wieder zu Übertreibungen neigte, sind offenbar selbst Marsalek gekommen. Um die Deals mit China unter Dach und Fach zu bringen, benötige er von Roussev genaue Angaben, wer der Kontakt im chinesischen Apparat sei, heißt es in einer Chatnachricht, die von Marsalek stammen soll.

"Ich fürchte, niemand will einen ersten Schritt tun (…) ohne sicher zu wissen, dass dies nicht die Initiative eines einzelnen halbwegs kompetenten Mannes auf der chinesischen Seite ist", soll der Ex-Wirecard-Vorstand geschrieben haben.

Marsalek schlug deshalb offenbar vor, dass er gemeinsam mit einem russischen Offiziellen nach China reisen könnte, um die russischen Zweifel an den angeblichen chinesischen Kontakten zu widerlegen. In Russland sei man skeptisch: "Denk daran, dass die meisten Leute hier keine beruflichen Risiken eingehen wollen." Für Marsalek offenbar ein Minuspunkt an Russland. "Das ist etwas, das mich verrückt macht."

Dieses Thema im Programm: Über dieses Thema berichtete NDR Info am 04. Februar 2025 um 03:00 Uhr.