
Antragsstau in Sozialämtern Bewohnern droht Rauswurf aus Pflegeheimen
Sozialämter brauchen meist Monate, in Extremfällen länger als ein Jahr, bis Anträge auf "Hilfe zur Pflege" entschieden werden. Das ergab eine Umfrage von Report Mainz. Pflegebedürftige und ihre Angehörigen bringt das in Bedrängnis.
Karin S. (Name geändert) hat Angst um ihren 69-jährigen Vater. Er ist pflegebedürftig und lebt in einem Heim in Niedersachsen. Seine Rente und das Geld der Pflegeversicherung reichen nicht, um die Heimrechnungen zu zahlen. Monatlich fehlen rund 900 Euro. Deshalb stellte die Tochter im April 2023 einen Antrag beim Sozialamt - auf "Hilfe zur Pflege".
Zehn Monate später war ihr Antrag immer noch nicht bewilligt. Das Vermögen des Vaters war inzwischen aufgebraucht. Und dann der Schock am Telefon: "Das Pflegeheim hat gedroht, meinen Vater vor die Tür zu setzen, wenn wir die laufenden Kosten nicht bezahlen können." Sie ist verzweifelt, denn Alternativen zum Pflegeheim hat sie nicht. Sie fürchtet, dass ihr Vater nicht mehr versorgt werden kann.
Widersprüchliche Aussagen
Der für das Sozialamt zuständige Landkreis schreibt zu dem Fall: "Zum Zeitpunkt der Antragstellung" habe es einen "extremen Personalengpass" gegeben. "Die Antragsunterlagen der Tochter" seien "nicht vollständig und "von einer drohenden Kündigung des Heimplatzes" sei "nichts bekannt" gewesen. Diesen Aussagen widerspricht Karin S. Über die drohende Kündigung des Heimplatzes habe sie mit einer Sozialamtsmitarbeiterin am Telefon gesprochen. Den Vorwurf, die Antragsunterlagen seien unvollständig gewesen, weist sie zurück.
Lange Wartezeiten
Dies ist kein Einzelfall. In einer bundesweiten Report Mainz-Umfrage äußerten sich insgesamt 113 Sozialämter konkret zu den Bearbeitungszeiten bei "Hilfe zur Pflege". Rund 27 Prozent von ihnen gaben an, dass diese von mehr als sechs Monaten bis hin zu einem Jahr dauern können. Fünf Prozent gaben Bearbeitungszeiten von weit mehr als zwölf Monaten an.
Besonders gravierend ist die Situation in Berlin-Pankow. Dort müssen Antragsteller "manchmal zwei oder drei Jahre warten". In Wilhelmshaven zum Beispiel betragen die Bearbeitungszeiten in "23 Prozent der Fälle" mehr als ein Jahr, im baden-württembergischen Tuttlingen "aktuell rund 12 Monate" und im Landkreis Wittenberg "teilweise über ein Jahr".
Die Alterswissenschaftlerin Tanja Segmüller von der Hochschule Bochum sieht dies kritisch: "Die Menschen brauchen kurzfristig eine Versorgung. Es wäre in Ordnung, wenn es wenige Wochen dauert. Aber Bearbeitungszeiten von einem halben Jahr oder bis zu einem Jahr sind unmöglich."
Noch immer Papierakten
Im Sozialamt des Berliner Bezirks Steglitz-Zehlendorf beträgt die mittlere Bearbeitungszeit fast ein Jahr. Hier arbeitet Heinz Sonnenschein in einer Welt voller Aktenberge und Rollcontainern: "Wir arbeiten aktuell immer noch mit Papierakten. Alle Post wird in Papier zu uns geschickt. Wir drucken das aus und arbeiten alles in Papierform ab."
Der zuständige Bezirksstadtrat Tim Richter beklagt außerdem eine "hohe Mitarbeiterfluktuation" im Sozialamt, "fehlende Unterlagen", "zeitintensive Vermögensprüfungen" und ein "anhaltend steigendes Antragsvolumen".
Aktuell gibt es in Steglitz-Zehlendorf 360 unbearbeitete Anträge auf "hilfe zur Pflege". Mit den Bearbeitungszeiten ist Richter nicht zufrieden: "Ich arbeite mit viel Kraft daran, dass wir schneller werden, dass wir digitaler werden. Ich möchte mich aber nicht aus dem Fenster lehnen, dass das morgen der Fall ist".
Heime unter finanziellem Druck
Bernd Meurer fordert schnelle Lösungen. Der Präsident des größten privaten Pflegeverbandes in Deutschland, bpa, beklagt, dass viele Heime durch ausbleibende Zahlungen der Sozialämter unter Druck kämen: "Eine Bearbeitungszeit von neun Monaten bedeutet im konkreten Fall, dass neun Monate die Gelder fehlen, um das Personal zu bezahlen und dass ich das als Einrichtungsträger vorfinanzieren muss", so Meurer. Deshalb müssten Heime Konsequenzen ziehen.
"Das Heim muss unter Umständen damit drohen oder auch eine Kündigung aussprechen, um gegenüber den Sozialämtern und auch den Angehörigen mal deutlich zu machen, es ist uns bitterernst, der Antrag muss bearbeitet werden", sagte der bpa-Präsident im Interview mit Report Mainz.
Die Altersforscherin Tanja Segmüller kann diese Argumentation nachvollziehen. Der Staat müsse Sorge dafür tragen, dass Menschen einen Heimplatz bekommen und den auch behalten können: "Wenn staatliche Leistungen über Monate oder Jahre nicht gezahlt werden, dann trifft es am Ende den Pflegebedürftigen." Und der stehe dann im Zweifel auf der Straße.
Lösungsvorschläge der Politik reichen nicht aus
Ende 2023 war laut Bundesgesundheitsministerium rund jeder dritte Heimbewohner auf "Hilfe zur Pflege" angewiesen. Deshalb schlägt die neue Bundesregierung im Koalitionsvertrag eine "Begrenzung der pflegebedingten Eigenanteile", vor. Eine Arbeitsgruppe soll das prüfen. Ziel ist es, die Zahl der Sozialhilfeempfänger zu senken.
Altersforscherin Segmüller hält das für Wunschdenken: "Tatsächlich sehe ich keine Begrenzung, sondern eher eine Ausweitung des Eigenanteils. Die Kosten in der Pflegeversicherung steigen, der Pflegebedarf in der Bevölkerung wächst, und Menschen brauchen eine Pflegeversorgung. Das bedeutet, dass auf jeden Fall weitere Einnahmen generiert werden müssen, die diese Kosten decken".
Angehörige wehren sich
Karin S. aus Niedersachsen ließ sich, nachdem das Pflegeheim wegen ausbleibender Zahlung die Kündigung angedroht hatte, von Experten des Pflegeschutzbundes BIVA beraten. Sie legte Dienstaufsichtsbeschwerde gegen Mitarbeiter des Sozialamtes ein - wegen Untätigkeit.
Was dies bewirken kann, beschrieb die Pankower Bezirksstadträtin Dominique Krössin bei einer Sitzung des Pflegeausschusses im Berliner Abgeordnetenhaus. Immer, wenn es Androhungen mit juristischen Maßnahmen bis hin zu Dienstaufsischtsbeschwerden gebe, fingen die Mitarbeiter an, "sozusagen außerhalb der normalen Abläufe zu arbeiten". Denn bei solchen Verfahren werde "die Arbeit noch viel größer".
Wie durch ein Wunder wurde dem Vater von Karin S. rund vier Wochen nach der Dienstaufsichtsbeschwerde "Hilfe zur Pflege" bewilligt. Das war fast ein Jahr nach Antragstellung. Offene Heimrechnungen von insgesamt rund 10.000 Euro wurden daraufhin rückwirkend bezahlt. Die Tochter war erleichtert. Viele andere Betroffene aber müssen weiter lange warten.