
Kinderverschickung Opfer sind bestürzt und verärgert
Bis in die 1990er-Jahre sind unzählige Kinder während staatlich organisierter Kuren gequält und misshandelt worden. Bei der Aufarbeitung fühlen sich Betroffene von der Politik im Stich gelassen, beklagen sie gegenüber Report Mainz.
Viele Jahrzehnte lang war ihr Schicksal vergessen. Doch seit einigen Jahren wird ihre Stimme immer lauter: die Stimme der Verschickungskinder. Seit Anja Röhl, selbst ein ehemaliges Verschickungskind, sich tagtäglich um deren Leid kümmert. Tausende Berichte ehemaliger Kurkinder hat sie inzwischen gesammelt. Täglich werden es mehr.
Wie Röhl wurden von den 1950er- bis in die 1990er-Jahre acht bis zwölf Millionen Kinder in Erholungskuren geschickt. Ein regelrechter Wirtschaftszweig, an dem unter anderem Krankenkassen, Gesundheitsämter und Jugendfürsorge beteiligt waren. Eigentlich sollte es den Kindern in den Heimen gut ergehen. Sie sollten sich erholen, bei guter Luft und gutem Essen gestärkt werden. Doch während der mehrwöchigen Kuren geschah oftmals das komplette Gegenteil.
Schläge, Strafen, Schlafmittel
Inzwischen gibt es unzählige Berichte darüber, wie der Alltag in den Kurheimen aussah. Allein das ARD-Politikmagazin Report Mainz hat mehrere Male über das Leid der Kurkinder berichtet: über sadistische Erziehungsmethoden in den Heimen, über Strafen und sexuellen Missbrauch. Über den Einsatz von Schlafmitteln und Psychopharmaka und die Rolle von hochrangigen NS-Tätern, sowie darüber, wie unzählige ehemalige Verschickungskinder bis heute unter ihren Erinnerungen leiden.
Initiative fordert Aufklärung
Dass dieses Leid nicht nur öffentlich bekannt, sondern auch aufgearbeitet wird, dafür kämpft Röhl inzwischen jeden Tag, ehrenamtlich. "Wir brauchen dringend Vernetzungsstellen, Anlaufstellen für die Betroffenen, Psychologen und Historiker, die in die Archive gehen." Deshalb hat Röhl eine Initiative gegründet, die sich inzwischen deutschlandweit organisiert. "Die Menschen haben ein Recht darauf, dass das aufgearbeitet wird", sagt Röhl. Das könne nur die Politik leisten.
Tatsächlich sicherten Politiker schon nach den ersten Berichten zu, sich des Themas anzunehmen. Das Schicksal der Verschickungskinder war Thema in mehreren Landtagen und deren Ausschüssen. Mehrere Minister auf Landesebene versprachen Aufarbeitung. Die Jugend- und Familienministerkonferenz beschloss im Mai 2020, dass die Geschehnisse in den Kurheimen "umfassend aufgeklärt" werden müssten. Sie forderte die Bundesregierung auf, eine bundesweite Aufklärung gemeinsam mit den Betroffenen anzustoßen.
Doch knapp anderthalb Jahre nach diesem Beschluss und kurz vor dem Wechsel der Bundesregierung ist eine solche Aufarbeitung kaum näher gerückt. Ehemalige Verschickungskinder um Röhl beklagen, dass bislang nichts Entscheidendes geschehen sei: "Konkret ist leider gar nichts passiert und schnell haben sie auch nicht reagiert."
So habe es zwischen der Initiative und Vertretern der Bundesregierung erst ein unverbindliches Treffen gegeben - ohne konkrete Ergebnisse. Auf weitere zugesicherte Termine warte man seit Monaten. "Wir haben das Gefühl, hier wird auf Zeit gespielt. Wir fühlen uns nicht ernst genommen", sagt Röhl. Dabei sei eine schnelle Aufarbeitung der Geschehnisse so wichtig. Denn bei vielen Betroffenen liege die Kur schon 40 oder 50 Jahre zurück: "Ich habe Angst, dass die Älteren bald sterben, wir können nicht mehr warten."
Zuständigkeit nicht geklärt
Auf Anfrage von Report Mainz heißt es aus dem Gesundheits-, dem Sozial- und dem Familienministerium, man wolle einen Beitrag zur Aufarbeitung leisten. Doch aufgrund ausstehender Klärungen sowie der Regierungsneubildung sei ein weiteres Gespräch bislang nicht möglich gewesen. Nach Informationen von Report Mainz haben die drei Ministerien bis heute noch nicht einmal geklärt, welches von ihnen federführend für die Aufarbeitung zuständig ist. Das obliege der künftigen Bundesregierung, teilten die drei Ministerien übereinstimmend mit.
Für Röhl und ihre Initiative ist der Stand der Aufarbeitung enttäuschend. "Wir sind bestürzt und verärgert", sagt sie im Interview mit Report Mainz. Den vielen Betroffenen bleibt also nur die Hoffnung, dass die neue Regierung den Worten endlich Taten folgen lässt, damit das Schicksal der Verschickungskinder nicht wieder in Vergessenheit gerät.