
UN-Chef Guterres zu Gaza "Die grausamste Phase des Krieges"
Israel hat erste Lastwagen mit Hilfsgütern wieder in den Gazastreifen gelassen. Für die Vereinten Nationen allerdings bei Weitem nicht genug. UN-Chef Guterres spricht von einer drohenden Hungersnot - vor den Augen der Welt.
Seit einigen Tagen lässt Israel wieder Hilfslieferungen der Vereinten Nationen und der internationalen Gemeinschaft in den Gazastreifen. Doch UN-Generalsekretär António Guterres sieht die Situation im Küstengebiet weiter mit großer Sorge. Die Palästinenser würden die wohl "grausamste Phase" des Krieges durchleiden, erklärte er.
"Die gesamte Bevölkerung Gazas ist von einer Hungersnot bedroht. Familien müssen hungern und ihnen wird das Nötigste vorenthalten - und das alles vor den Augen der Weltöffentlichkeit", sagte er. Die UN hätten alle logistischen Voraussetzungen, um die Menschen zu versorgen, sofern Israel dies zulasse, sagte Guterres. "160.000 Paletten stehen bereit, genug, um fast 9.000 Lastwagen zu füllen."
Bis März gelangten 600 Lkw täglich in den Gazastreifen
Israel hatte seit Anfang März sämtliche Hilfslieferungen nach Gaza blockiert und kurz darauf auch die Waffenruhe mit der islamistischen Hamas beendet. Damit sollte der Druck auf die Terrororganisation erhöht werden, die im Gazastreifen weiter festgehaltenen Geiseln freizulassen.
In dem Küstengebiet am Mittelmeer leben rund zwei Millionen Menschen. Anfang der Woche lockerte Israel die fast dreimonatige Blockade für humanitäre Hilfe. Am Freitag seien weitere 83 unter anderem mit Mehl und Medikamenten beladene LKW über den Grenzübergang Kerem Schalom in Gaza eingetroffen, teilte Israels zuständige Behörde Cogat mit.
Vor der Blockade durch Israel waren im Durchschnitt rund 600 LKW am Tag in den Gazastreifen gekommen. Nach UN-Angaben sind diese Mengen weiterhin nötig, um die Bevölkerung dort zu versorgen. Die 400 zugelassenen Lastwagenladungen in dieser Woche seien "nur ein Teelöffel" der nötigen Hilfe, sagte Guterres. Die Vereinten Nationen warnten bereits Mitte Mai, dass Hunderttausende Menschen akut vom Hungertod bedroht seien.
"Die Menschen in Gaza können nicht länger warten"
"Die aktuelle Hilfe ist wie eine Nadel im Heuhaufen", schrieb der Chef des UN-Palästinenserhilfswerks UNRWA, Philippe Lazzarini, auf der Onlineplattform X. "Die Rettung von Menschenleben muss Vorrang vor militärischen und politischen Agenden haben. Die Menschen in Gaza können nicht länger warten", schrieb er weiter.
Israel behauptete, es gebe keinen Mangel an Hilfsgütern. Die Regierung beschuldigt die Hamas, sie zu stehlen, um damit Geld zu machen, was die Islamistenorganisation bestreitet. Auch die UN sagen, Israel habe keine Beweise dafür vorgelegt.
"Hunger, Verzweiflung und die Ungewissheit, ob noch weitere Nahrungsmittelhilfe kommt, tragen zur wachsenden Unsicherheit bei", hieß es in einer Erklärung des Welternährungsprogramms der Vereinten Nationen (WFP). "Wir brauchen die Unterstützung der israelischen Behörden, um deutlich größere Mengen Nahrungsmittelhilfe schneller, gleichmäßiger und auf sichereren Routen nach Gaza zu bringen, wie es während der Waffenruhe geschehen ist", hieß es.
Israels Bodentruppen rücken weiter vor
Denn während Israel vereinzelt wieder Lastwagen in den Gazastreifen lässt, gibt es weiterhin tägliche Luftangriffe auf dortige Hamas-Ziele. Bodentruppen rücken weiter vor. Nach palästinensischen Angaben gab es allein in der vergangenen Nacht mindestens 21 Tote. Laut Vereinten Nationen sind inzwischen 81 Prozent des Gebiets unter der militärischen Kontrolle Israels. Auch deshalb sei die Verteilung der Hilfsgüter schwierig.
Israels Premier Benjamin Netanjahu hatte am Mittwoch einen Plan vorgestellt, den seine Regierung für den Gazastreifen vorsieht. In der aktuellen ersten Phase sollen die grundlegenden Lebensmittel in den Gazastreifen reingelassen werden, um eine humanitäre Krise zu vermeiden und "den Fortbestand des Krieges zu ermöglichen".
"In der zweiten Phase werden amerikanische Firmen Verteilungszentren öffnen, die von israelischen Truppen gesichert werden", erklärte Netanjahu. "Und in der dritten Phase, parallel zu der Übernahme der Kontrolle über Gegenden im Gazastreifen, wird im Süden des Streifens ein steriles Areal entstehen, in das die Zivilbevölkerung aus den Kriegsgebieten zu ihrem eigenen Schutz evakuiert wird." Demnach soll an diesem Wochenende Phase Zwei beginnen.
Internationaler Druck wächst
Israel hat Beobachtern zufolge mehrere Ziele: Die Bevölkerung im Norden Gazas soll offenbar in den Süden vertrieben werden. Nur dort soll es Hilfe geben. Es soll verhindert werden, dass Hilfsgüter in die Hände der Hamas gelangen. UN-Organisationen, die bisher weite Teile der Bevölkerung im Gazastreifen versorgt haben, sollen ausgeschlossen werden.
Ob Israel seinen Plan für Gaza weitverfolgen kann, hängt auch vom internationalen Druck ab. Mehrere Staaten hatten zuletzt heftige Kritik geübt.
Mit Informationen von Jan-Christoph Kitzler, ARD-Studio Tel Aviv