
Urteil zu Zurückweisungen von Asylsuchenden Kritik an Dobrindt und ungeklärte rechtliche Fragen
Innenminister Dobrindt will trotz eines Gerichtsentscheids an Zurückweisungen von Asylsuchenden an den Grenzen festhalten. Migrationsexperten sehen das kritisch - drohen weitere Niederlagen vor Gericht?
Ob die Bundesregierung die vom Berliner Verwaltungsgericht für rechtswidrig erklärten Zurückweisungen von Asylsuchenden dauerhaft aufrechterhalten kann, ist nach Einschätzung von Migrationsrechtsexperten offen.
Der Vorsitzende des Sachverständigenrats für Integration und Migration, Winfried Kluth, sagte der Nachrichtenagentur dpa, die Entscheidung des Berliner Gerichts liege "ganz auf der Linie der herrschenden Meinung im Migrationsrecht und der bisherigen Rechtsprechung des Europäischen Gerichtshofs" (EuGH).
Im konkreten Fall ging es um drei Somalier, die von Frankfurt (Oder) aus nach Polen zurückgeschickt wurden.
Bundesinnenminister Alexander Dobrindt (CSU) hatte am 7. Mai eine Intensivierung der Grenzkontrollen verfügt und angeordnet, künftig auch Asylsuchende an der Grenze zurückzuweisen.
Das Verwaltungsgericht Berlin stellte am Montag in einer Eilentscheidung fest, dass die Zurückweisung von Asylsuchenden bei Grenzkontrollen auf deutschem Gebiet rechtswidrig sei. Ohne eine Klärung, welcher EU-Staat für ihren Asylantrag zuständig sei, dürften sie nicht abgewiesen werden.
Experte: Notlagenklausel fraglich
Dobrindt hatte nach der Gerichtsentscheidung erklärt, trotzdem an den Zurückweisungen von Asylsuchenden an der Grenze festhalten zu wollen. Die Beschlüsse des Berliner Verwaltungsgerichts seien lediglich Einzelfallentscheidungen. Der CSU-Politiker kündigte an, ein sogenanntes Hauptsacheverfahren anzustreben. Dobrindt äußerte sich zuversichtlich, dann Recht zu bekommen.
Migrationsrechtsexperte Kluth erklärte: "Die neue Bundesregierung will die Rechtsprechung dazu bringen, ihren Standpunkt zu ändern." Angestrebt würden letztlich Entscheidungen des EuGH, die mehr Spielräume böten.
Zudem werde versucht, unter Verweis auf die Überlastung der Kommunen eine neue Argumentation für die Interpretation der Aufrechterhaltung der öffentlichen Ordnung und den Schutz der inneren Sicherheit nach Artikel 72 des Vertrags über die Arbeitsweise der Europäischen Union zu etablieren. Diese sogenannte Notlagenklausel erlaubt Ausnahmen.
"Ob man von der Lage in einzelnen Kommunen auf ganz Deutschland schließen kann, ist aber sehr fraglich", gab der Jurist zu bedenken.
Solange das zuständige höchste Gericht nicht ausdrücklich anders entschieden habe, sei es zwar möglich, eine neue, bislang nicht etablierte Auslegung einer Norm anzustreben, erklärte Kluth.
Der aktuelle Fall werfe aber auch die Frage auf, wer die Feststellung treffen könne, dass eine Ausnahmelage im Sinne von Artikel 72 vorliegt. "Das ist eine Entscheidung von großer Tragweite, weil damit der Vorrang des Unionsrechts partiell durchbrochen wird", sagte der Jurist.
Aus seiner Sicht müsste eine solche Entscheidung die gesamte Bundesregierung oder sogar der Bundestag treffen - ähnlich wie die Entscheidung über die epidemische Lage von nationaler Tragweite in der Corona-Pandemie. Dies müsste dann auch förmlich den Nachbarstaaten und der EU-Kommission mitgeteilt werden.
"Bundesregierung wird alle Fälle verlieren"
Auch Migrationsforscher Gerald Knaus sieht das Konzept der Zurückweisungen an den deutschen Grenzen kritisch. "Alle Fälle, die vor Gericht kommen werden, wird die Bundesregierung verlieren bis hinauf zum Europäischen Gerichtshof. Die Frage ist nur, wie lange sie das noch durchziehen will", sagte Knaus im Podcast "5-Minuten-Talk" des Magazins Stern.
Knaus zeigte sich irritiert über Dobrindts Ankündigung, an dem umstrittenen Konzept festzuhalten: "Irgendwann muss ja auch die SPD - sie stellt ja die Justizministerin - die Frage stellen, wie kann man eigentlich die Bundespolizei losschicken, was zu tun, was offensichtlich rechtswidrig ist."
Experte: Bessere rechtliche Begründung nötig
Migrationsrechtsexperte Daniel Thym schätzt das anders ein: Trotz der Berliner Verwaltungsgerichtsentscheidung hält er es noch für möglich, dass Zurückweisungen Asylsuchender an der Grenze rechtlich Bestand haben könnten.
Die Bundesregierung habe in dem konkreten Fall keine ausreichende Begründung vorgelegt, warum sie sich auf eine Ausnahmeregelung des EU-Rechts stützt, und darum habe sich das Gericht mit diesem Aspekt auch nicht befasst, erklärte der Professor der Universität Konstanz im Deutschlandfunk. "Wenn sie eine solide Begründung vorlegen, könnte ich mir vorstellen, dass der Eilrechtsschutz auch anders ausfällt."
Eine Entscheidung stünde in einem solchen Fall erst Monate später im Hauptsacheverfahren an. "Es gibt viele Argumente, dass es nicht geht, aber auch einige, dass es geht", sagte er.
Die großen Herausforderungen bei der Integration Geflüchteter könnten etwa eine geeignete Begründung sein, warum Deutschland von den EU-Regelungen abweiche. Deutschland habe beispielsweise einschließlich der Ukrainer achtmal so viele Migranten aufgenommen wie Italien, obwohl es nur eineinhalb Mal so viele Einwohner habe.
Merz: Werden an Zurückweisungen festhalten
Bundeskanzler Friedrich Merz bekräftigte unterdessen, an den Zurückweisungen Asylsuchender an den Grenzen festhalten zu wollen. Die Entscheidung des Berliner Gerichts enge die Spielräume zwar möglicherweise noch einmal etwas ein, sagte der CDU-Chef. "Aber die Spielräume sind nach wie vor da. Wir wissen, dass wir nach wie vor Zurückweisungen vornehmen können."
"Wir werden das selbstverständlich im Rahmen des bestehenden europäischen Rechts tun", sagte Merz. "Aber wir werden es tun, auch um die öffentliche Sicherheit und Ordnung in unserem Lande zu schützen und die Städte und Gemeinden vor Überlastung zu bewahren." Dieser Aufgabe wolle sich die Bundesregierung unverändert stellen.
Der Kanzler unterstrich, bis sich die Lage an den europäischen Außengrenzen mit Hilfe von neuen gemeinsamen europäischen Regeln deutlich verbessert habe, "werden wir die Kontrollen an den Binnengrenzen aufrechterhalten müssen".
Kritik aus der SPD
Der SPD-Politiker Ralf Stegner kritisierte Bundesinnenminister Dobrindt nach dem Berliner Urteil. Die SPD habe in der Asylpolitik immer "auf Humanität und die Einhaltung der deutschen und europäischen Rechtsgrundlagen an unseren Landesgrenzen bestanden", sagte Stegner dem Magazin Spiegel. Dies hätten die Konservativen stets lässig zurückgewiesen.
Im Wahlkampf habe es dann "die bekannte flotte Zurückweisungsrhetorik der Union gerade aus der CSU" gegeben. Diese stehe nun vor dem Praxistest im Regierungshandeln. "Das wird für Herrn Dobrindt möglicherweise nicht ohne ein paar politische Schrammen abgehen - so was kommt von so was", sagte Stegner, der in den Koalitionsverhandlungen zwischen CDU, CSU und SPD die Innen- und Migrationspolitik mitverhandelt hatte.
Grüne: "Kurs in Trump-Manier durchsetzen"
Scharfe Kritik an der Flüchtlingspolitik der Unionsparteien kam auch aus der Opposition. "Es ist unseriös und höchst bedenklich, wenn man immer wieder versucht, den rechtlichen Rahmen maximal auszutesten und dafür auch bereit ist, den Rechtsbruch in Kauf zu nehmen", sagte Grünen-Chef Felix Banaszak den Zeitungen der Funke Mediengruppe.
Er warf der Union unter Bundeskanzler Friedrich Merz vor, sie versuche mit scharfen Ankündigungen und rechtlich offensichtlich nicht tragbaren Anweisungen, "in Trump-Manier ihren Kurs durchzusetzen". Banaszak forderte, durch ein gemeinsames Vorgehen in Europa an "wirklichen Verbesserungen" in der Migrationspolitik zu arbeiten. "Maßnahmen, die europäisches Recht unterlaufen, sind da nicht hilfreich, sondern schaffen nur Chaos".
Linken-Chef Jan van Aken warf der Bundesregierung in der Rheinischen Post vor, sie verstoße gegen geltendes Recht, "nur weil sie Sündenböcke braucht". Die Bundesregierung betreibe "Hetze" gegen Migrantinnen und Migranten, um davon abzulenken, dass sie eine "Politik gegen die Mehrheit der Menschen hier im Land" mache.
Aktenzeichen VG 6 L 191/25